Betriebliche Sozialpolitik und Zwangsarbeit Prof. Dr. Manfred Grieger

Teilen
Wintershall Dea History NS Zeiten Zwangsarbeit
Wintershall Dea History NS Zeiten Zwangsarbeit
Foto
Werra-Kalibergbau-Museum, Heringen

Bereits am 1. Mai 1933 fand eine Kundgebung mit NS-Propaganda auf dem Gelände des Wintershall-Werkes in Merkers statt.

Betriebliche Sozialpolitik und Zwangsarbeit. Zwei Seiten der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ bei Wintershall

Prof. Dr. Manfred Grieger
(Georg-August-Universität, Göttingen)

Die Rolle von Unternehmen im Nationalsozialismus wurde seit den 1990er-Jahren oft anhand der massenhaften Zwangsarbeit in den Betrieben diskutiert. Während zuletzt aber vor allem die systemintegrierenden Faktoren im Rahmen der „Volksgemeinschaft“-Forschung betont wurden, steht hier das Nebeneinander von betrieblicher Sozialpolitik und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern als die beiden Seiten einer rassistisch strukturierten NS-Betriebsgemeinschaft bei Wintershall im Fokus.

Der Etablierung der Macht der Nationalsozialisten folgte die allmähliche Überwindung der Weltwirtschaftskrise. Zugleich stützte deren Förderung der nationalen Erdölwirtschaft die von August Rosterg vorgenommene strategische Ausweitung der Geschäftstätigkeit der Wintershall AG auf den Erdölbereich. Im Ergebnis konnte bis Ende 1933 die Produktion in etlichen Kalistandorten verstetigt, die Anzahl der Feierschichten verringert und sogar einzelne stillstehende Anlagen wieder in Betrieb genommen werden. 

Im Erdölbereich kam es sogar zu Neueinstellungen, sodass sich auf betrieblicher Ebene die wirtschaftliche Belebung widerspiegelte. Im Ergebnis stieg die Konzernbelegschaft im Jahre 1933 von 4.455 auf 5.206 Beschäftigte und verdreifachte sich bis 1938 sogar auf 13.340 Mitarbeiter. Neueinstellungen bildeten nach der tiefen Krise die wohl wichtigste Maßnahme mit loyalitätssteigernder Wirkung – sowohl gegenüber dem Unternehmen wie auch gegenüber dem NS-Regime.

Zudem verbesserten nach den Tariflohnkürzungen im Frühjahr 1934 die Mehrarbeit und die Akkordsteigerungen das Durchschnittseinkommen von Kaliarbeitern um mehr als ein Drittel. Bei den freiwilligen sozialen Leistungen wie Weihnachtszuwendungen bestand einerseits hohe Kontinuität. Andererseits zeigten die Übernahme der Kosten für KdF (Kraft durch Freude)-Fahrten, Studienreisen und Lehrfahrten, die geldliche Unterstützung bei militärischen Übungen oder auch die Freistellung zu den Lehrgängen der NSDAP oder der SS und die Übernahme der Fahrtkosten als Dienstreisen eine erkennbare Ausrichtung der Wintershall AG auf die Regimeaktivitäten. 

 

Die Nazifizierung der betrieblichen Sphäre

Darüber hinaus implementierte das Unternehmen den Appell, etwa zum 1. Mai oder auch zum einjährigen Regierungsjubiläum der NSDAP in Thüringen, als politische Vergemeinschaftungsform im Nationalsozialismus. Flächendeckend durchgeführt und stets nach dem gleichen Ablauf durch Aufstellung der Belegschaft, Fahneneinzug, Ansprachen, Huldigung des „Führers“ usw. ablaufend, stieg die vollständige Anwesenheit zum Leistungsparameter auf. Die Nazifizierung der betrieblichen Sphäre zeigte sich auch in der quasi-militärischen Inszenierung des Unfalltodes. Erfolgte nach dem Brandunglück an der Bohrung Nienhagen 22 mit sechs Todesopfern 1934 noch eine Trauerfeier unter Beteiligung des örtlichen Pastors, glich die pompöse Feierlichkeit nach dem Unfalltod von 14 Beschäftigten des Werks Kaiseroda im August 1938 im Hinblick auf Fahnen, Aufmarsch und Ablauf einem NS-Staatsbegräbnis.

Nach Angabe von Wintershall-Vorstand Römer waren die Unfalltoten – wie Soldaten – „auf dem Felde der Ehre“ gestorben, und er rief die Lebenden auf, „ebenso vorbildlich in der Volksgemeinschaft zu wirken und zu schaffen“ wie sie. Römer gelobte überdies, „innerhalb der uns vom Führer Adolf Hitler gestellten Aufgaben alles das zu tun“, was den Unfallschutz verbessern könnte. 

Die Ausrufung einer nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ nährte die Illusion der Überwindung sozialer Gegensätze. Allerdings brachte der Arbeitsprozess die betrieblichen Hierarchieunterschiede immer wieder zutage und insbesondere die Berechnung des Leistungslohns führte immer wieder zu Meinungsunterschieden, bei denen mitunter der NS-dominierte Vertrauensrat vermittelte. Auch der traditionale Absentismus oder das saisonale Fernbleiben von Nebenerwerbslandwirten zog unter Umständen den Vorwurf der Arbeitsverweigerung oder die Unterstellung „asozialen Verhaltens“ nach sich. Hinweise auf oppositionelles Verhalten und Widerstandstätigkeit ehemaliger Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter zeigen auf, dass nicht alle mittaten. 

 

Einsatz von Zwangsarbeitern im großen Stil

Der vom Unternehmen und vom NS-Regime ausgeübte Leistungsdruck und die Disziplinierungspolitik verschärften sich im Zweiten Weltkrieg weiter, wobei die ab 1940 von der Wintershall rekrutierten ausländischen Ersatzarbeitskräfte unter besonders strenger Kontrolle standen. Die Frage des Zwangsarbeitereinsatzes, der der betrieblichen Ebene überwiesen worden war, stand nur ganz gelegentlich auf Vorstandssitzungen oder im Aufsichtsrat zur Diskussion. 

Im zum Wintershall-Konzern gehörigen Spritzgusswerk Fusor in Berlin-Rudow waren beispielsweise 1941 auch mehrere Hundert deutsche Juden im Rahmen des „Geschlossenen Arbeitseinsatzes“ als Zwangsarbeiter tätig. Dort erhielt ein Berliner Jude, dem „Aufsässigkeit“ gegen seinen Vorgesetzten vorgeworfen worden war, in einer Strafaktion mit einem Tau Schläge. 

Darüber hinaus hatten insbesondere Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion unter Repressalien zu leiden. Auch wenn keine Vorstandsanweisung zur Brutalisierung der Arbeitsbeziehungen bestanden haben dürfte, waren bei Fusor alle Vorkommnisse dem Betriebsführer zu melden, der seinerseits den Betriebsobmann der Deutschen Arbeitsfront (DAF) mit der Bestrafung der betreffenden Personen beauftragte. Dass ein DAF-Funktionär insbesondere dem Äußeren nach Jüdinnen aus besserem Hause die Toiletten der jüdischen Zwangsarbeiter zu putzen auftrug, wobei sich die „deutschen“ Putzfrauen zuvor geweigert hatten, für die Juden zu arbeiten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die betriebliche Internalisierung von rassistischen Regeln des NS-Regimes.

Die Abhängigkeit von ausländischen Zwangsarbeitern bestand im wachsenden Maße. Denn im weiteren Kriegsverlauf stieg der Ausländeranteil auf mehr als ein Drittel der Belegschaften an, wobei im Ölbereich schätzungsweise 6.200, im Kalisegment 2.900 und bei der Leichtmetallverarbeitung mehr als 500 Zwangsarbeiter der unterschiedlichen Kategorie und Nationalität eingesetzt waren. 

 

Das Beispiel Lützkendorf als Mikrokosmos

Das Großprojekt Lützkendorf bildete geradezu einen Mikrokosmos der NS-Kriegsgesellschaft, war doch das Werksgelände auch durch zahlreiche Massenunterkünfte für die verschiedenen Ausländergruppen geprägt. Denn neben Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen griff die dortige Betriebsleitung für den Ausbau des Werks bereits ab Frühjahr 1940 auf Strafgefangene der Strafanstalt Naumburg zurück. Bis 1942 erfolgte eine Aufstockung des Kontingents auf 164 Polen. Die Mehrzahl ersetzte mit ihrer Muskelkraft fehlende Maschinen oder stand bis zu den Knien im Dreck. Die anhaltende Energieleistung der Sozialabteilung des Werks, immer wieder Ersatz oder zusätzliche Strafgefangene zu erhalten, verweist darauf, dass unfreie Arbeit zur Betriebsnormalität des Lützkendorfer Werks gehörte.

Zur Disziplinierung der ausländischen Zwangsarbeiter bestand auf dem Werksgelände zudem ein „Arbeitserziehungslager“ der Leipziger Gestapo. Nach den Bombardierungen im Sommer 1944 stellte die SS Mitte August 1944 sogar noch mehr als 920 KZ-Häftlinge für die Schadensbeseitigung zur Verfügung, womit die letzte, vollkommen rechtlose und schonungslos ausgebeutete Zwangsarbeitergruppe Verwendung fand. Hunger, Krankheit, Drangsalierung und Tod gehörten schon längst zum betrieblichen Alltag.

Mit der Entscheidung, im sauerländischen Messinghausen eine Ersatzanlage zu errichten und Arbeitskräfte und Anlagen dorthin abzugeben, schmolz die auf dem Höhepunkt 8.700 Mann betragende Belegschaft ab Dezember 1944 deutlich ab.

Die Konzernleitung in Kassel, die die menschenrechtsverletzende Behandlung ausländischer Zwangsarbeiter an die dezentralen Betriebsstrukturen abdelegiert hatte, konnte in der Nachkriegszeit nach dem Vorbild des kaufmännischen Leiters des Rudower Tochterunternehmens behaupten, „persönlich mit den ausländischen Arbeitern nicht zu tun“ gehabt zu haben.

Tatsächlich etablierte die Betriebspraxis in der Wintershall AG das für das NS-System charakteristische Nebeneinander von Inklusion der Dazugehörigen und der rassistischen Diskriminierung der Exkludierten.

Wintershall Dea Historical Congress Speaker Grieger
Wintershall Dea Historical Congress Speaker Grieger
Foto
Wintershall Dea/Bernd Schoelzchen

Zur Person

Professor Dr. Manfred Grieger ist Wirtschaftshistoriker und Honorarprofessor an der Georg-August-Universität in Göttingen. Von 1998 bis 2016 war er Leiter der Historischen Kommunikation in der Konzernkommunikation bei Volkswagen. Zuvor hatte Grieger mit der Arbeit „Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, 1933-1948“ zum Dr. phil. promoviert. Grieger ist Mitglied in der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen sowie im Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte.