Wintershall Dea lässt Firmengeschichte im Nationalsozialismus weiter aufarbeiten
- Gesellschaft für Unternehmensgeschichte erforscht derzeit Handeln des Vorgängerunternehmens DEA
- Historiker zeigen, wie DEA zum wichtigsten Lieferanten der Kriegsmarine wurde und Zwangsarbeiter ausbeutete
Drei Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs „Expansion um jeden Preis: Studien zur Geschichte der Wintershall AG zwischen Krise und Krieg, 1929 bis 1945“ setzt Wintershall Dea die Aufarbeitung seiner Firmengeschichte zur Zeit des Nationalsozialismus fort – und konzentriert sich nun auf das zweite Vorgängerunternehmen, die 1899 gegründete „Deutsche Erdöl Aktiengesellschaft“ (DEA).
Das Forschungsprojekt wird seit Anfang 2022 von der unabhängigen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG) durchgeführt, die mit Prof. Dr. Manfred Grieger (Universität Göttingen) und Dr. Rainer Karlsch (Berlin) zwei renommierte Wirtschaftshistoriker mit den Recherchen beauftragt hat. Ziel ist die Veröffentlichung eines umfassenden Überblicks zur Geschichte des Unternehmens in der NS-Zeit, der die Strukturen und wesentliche Entwicklungen des DEA-Konzerns zwischen 1939 und 1945 aufzeigt und deren unterschiedliche Ausprägung in den dezentralen Betriebsstätten für Bergbau, Ölförderung, Raffinerie und Vertrieb analysiert. Eine Veröffentlichung als Buch ist für Ende 2024/Anfang 2025 geplant. Erste Ergebnisse zu bisher unerforschten Aspekten der Firmengeschichte von DEA wurden jetzt (08.11.) in Hamburg bei einer Historischen Tagung einem Fachpublikum vorgestellt.
Bedeutung historischer Aufarbeitung ist aktueller denn je
Für ein internationales Unternehmen mit deutschen Wurzeln sei die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte wichtig, betont Mario Mehren, CEO von Wintershall Dea. In Zeiten, in denen eine in Teilen rechtsextremistische Partei in ganz Deutschland Wahlerfolge feiert, in denen fremdenfeindliche Parolen wieder verbreitet und Jüdinnen und Juden in Deutschland zunehmend angegriffen werden, müsse man sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und auch mit der Rolle seines Unternehmens in dieser Zeit kritisch auseinanderzusetzen. Nur so könne man rechtsextremem Gedankengut entschlossen entgegentreten.
Unternehmenssprecher Michael Sasse ergänzt: „Wenn es eine Lehre gibt, die wir bei Wintershall Dea aus unserer Unternehmensgeschichte ziehen, dann ist es: klar Position zu beziehen. Gegen Rechtsextremismus. Gegen Hass und Hetze. Für Demokratie und ein respektvolles Zusammenleben. Das sind wir auch der eigenen Belegschaft schuldig.“ Bei Wintershall Dea arbeiten weltweit mehr als 2.000 Menschen aus 60 Nationen: „Ihnen müssen wir zeigen: Wir schätzen Euch. Und wir schützen Euch vor Hass und Hetze. Dafür setzt sich unser Unternehmen heute ein – damit sich schreckliche Geschichte nicht wiederholt“, sagt Sasse.
Was bisher über die Geschichte der DEA bekannt war
Anders als bei Wintershall gab es zu Teilaspekten der Geschichte von DEA schon vereinzelte Publikationen in der NS-Zeit: So veröffentlichte Rainer Karlsch neben seiner Branchenstudie „Faktor Öl: Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859-1974“ auch einen Aufsatz über die Karpaten Öl AG, ein Gemeinschaftsunternehmen deutscher Ölfirmen, an dem die DEA finanziell und personell stark beteiligt war.1 Die Karpaten Öl AG sollte die Ölvorkommen im heutigen Polen ausbeuten und setzte dazu zehntausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein.
Andere Historiker gaben in Sammelstudien und Quellenbänden Einblicke in das Schicksal einiger jüdischer DEA-Vorstände und Aufsichtsräte: So wurde etwa Georg Solmssen, Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bank AG und Vorsitzender des Aufsichtsrats der DEA, wegen seiner jüdischen Herkunft 1938 ebenso aus dem Amt gedrängt wie DEA-Vorstand Fritz Haußmann.2
Neue Erkenntnisse über Handeln der DEA im Nationalsozialismus
Klar ist nach derzeitigem Forschungsstand, dass nicht nur die Wintershall AG, sondern auch DEA stark von der nationalsozialistischen Aufrüstungs- und Autarkiepolitik profitierte. Das Unternehmen setzte ebenfalls Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter an seinen Standorten im In- und Ausland ein und beteiligte sich aktiv an der Ausbeutung der Erdölvorkommen in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Auch die Beteiligung der DEA an „Arisierungen“ konnte nachgewiesen werden.
Bei der Historischen Tagung in Hamburg präsentierten Manfred Grieger und Rainer Karlsch weitere Zwischenergebnisse ihrer aktuellen Recherchen. Dabei griffen sie aus der Vielzahl ihrer Forschungsfragen exemplarisch zwei Themen heraus, die in der historischen Untersuchung von DEA bislang noch nicht näher in den Blick genommen worden waren:
Manfred Grieger stellte eine exemplarische Analyse eines DEA-Standorts am Beispiel von Rositz vor, wo das Unternehmen seit 1916 Heizöl und später auch Diesel aus teerhaltiger Braunkohle erzeugte. Dabei zeigte der Historiker unter anderem, wie die auf Expansion und Krieg ausgerichtete NS-Wirtschaftspolitik zu einer wesentlichen Erweiterung der Erzeugungskapazitäten in Rositz führen. Dabei machte die Marine laut Grieger Vorgaben zur Produktqualität, stellte aber auch Kredite und Zuschüsse für den Ausbau der Werksanlagen zur Verfügung. Die DEA wurde so zum wichtigsten Lieferanten der Marine und gehörte damit zu den Nutznießern der Rüstungskonjunktur.
Die Zerstörung der Raffinerieanlagen und Transportwege durch alliierte Luftangriffe legte ab Mitte August 1944 die Produktion in Rositz lahm. Um Heizöl- und Kraftstofferzeugung für die deutsche Kriegswirtschaft zu sichern, sorgte eine NS-Sonderinstanz für die Zuführung von zusätzlichen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Darunter waren auch mehr als 420 jüdische Deutsche und sogenannte Halbjuden, die durch diese Selektion von ihrer unmittelbaren Ermordung in einem der Konzentrationslager ausgenommen wurden, so Grieger. Insgesamt arbeiteten vor Ort in Rositz 3.200 Menschen für die DEA, von denen rund die Hälfte als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden.
Rainer Karlsch zeichnete die Aktivitäten der DEA in Österreich nach der Annexion durch das Deutsche Reich im Jahr 1938 nach und zeigte, wie die Kriegswirtschaft auch zur Rückkehr der DEA ins Erdölgeschäft sorgte. Nach Karlsch‘ Recherchen war die DEA bis Frühjahr 1938 nur auf Drängen des Reichswirtschaftsministeriums bereit, sich an der Prospektion im Wiener Becken zu beteiligen. Nachdem 1938/39 aber mehrere Bohrungen fündig geworden waren, stieg DEA zum wichtigsten deutschen Erdölförderer in der „Ostmark“ auf. Der Konzern profitierte dabei von den Vorleistungen des englischen Erdölpioniers van Sickle und schloss mit dessen Firma einen Knebelvertrag. Auch beim Erwerb der Raffinerie „Nova“ in Wien-Schwechat nutzte DEA die Zwangslage des Verkäufers, dem französischen Unternehmen Creditul Minier aus, das sich aus politischen Gründen aus Österreich zurückziehen wollte.
In den letzten Kriegsmonaten übernahm DEA in Österreich die Betriebsführung der Raffinerie in Ebensee. Die grauenhaften Zustände, unter denen tausende Häftlinge unterirdische Stollen bauten, müssen von der DEA-Zentrale gebilligt und für die in Ebensee eingesetzten DEA-Mitarbeiter tagtäglich gegenwärtig gewesen sein.
Vernetzung mit anderen Forschenden
Weitere Themen der Historischen Tagung waren die Bedeutung des Reichsbohrprogramms für Wintershall und DEA, die Marvin Brendel, (Agentur All About Assets für Wintershall Dea) erläuterte. Dr. Karsten Linne (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur) zeichnete die Gründung der Kontinentale Öl AG nach, an der beide Firmen beteiligt waren. Zudem präsentierten Historiker:innen des Instituts für Didaktik der Demokratie (IDD) an der Leibniz-Universität Hannover ihre aktuellen Recherchen. Sie untersuchen in einem vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Forschungsprojekt die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen der Erdölförderung im Raum Celle zwischen 1933 bis 1945 sowie in der Nachkriegszeit. Durch den Austausch der Forschenden über ihre Projekte soll eine breitere Kontextualisierung der DEA-Geschichte erreicht werden.
Die vollständigen Forschungsergebnisse von Manfred Grieger und Rainer Karlsch zur Geschichte der DEA im Nationalsozialismus werden zum Jahreswechsel 2024/25 als Buch veröffentlicht.
(1) Rainer Karlsch/Raymond Stokes, Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859-1974, München 2003, sowie Rainer Karlsch: „Ein vergessenes Großunternehmen. Die Geschichte der Karpaten Öl AG“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/1, S. 95-138.
(2) Zu Georg Solmssen siehe etwa: Harold James, Martin L. Müller (Hrsg.): Georg Solmssen – ein deutscher Bankier. Briefe aus einem halben Jahrhundert 1900–1956 (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 25), München 2012. Informationen über Fritz Haußmann etwa bei Martin Münzel, Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite, Paderborn 2006, S. 277–280, oder Dirk Bavendamm, Die Geschichte des Unternehmens, in: ders. (Hg.), 100 Jahre RWE-DEA 1899–1999; Hamburg 1999, S. 200ff..
Über Wintershall Dea
Wintershall Dea entwickelt sich von Europas führendem unabhängigen Erdgas und Ölunternehmen zu einem in Europa führenden unabhängigen Gas- und Carbon Management-Unternehmen. Wir haben mehr als 120 Jahre Erfahrung als Betriebsführer und Projektpartner entlang der gesamten E&P-Wertschöpfungskette. Das Unternehmen mit deutschen Wurzeln und Sitz in Kassel und Hamburg sucht und fördert in 11 Ländern weltweit Gas und Öl auf effiziente und verantwortungsvolle Weise. Mit Aktivitäten in Europa, Lateinamerika und der MENA-Region (Middle East & North Africa) verfügt Wintershall Dea über ein weltweites Upstream-Portfolio und ist mit Beteiligungen im Erdgastransport zudem im Midstream-Geschäft aktiv. Und wir entwickeln Lösungen für Kohlenstoffmanagement und kohlenstoffarmen Wasserstoff, um die Klimaziele zu erreichen und die Energieversorgung zu sichern. Mehr in unserem Geschäftsbericht.
Als europäisches Gas- und Ölunternehmen unterstützen wir das Ziel der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden. Dafür haben wir uns anspruchsvolle Ziele gesetzt: Bis 2030 wollen wir die Treibhausgasemissionen der Kategorien Scope 1 und 2 in allen unseren eigenoperierten und nicht eigenoperierten Explorations- und Produktionsaktivitäten in Höhe unseres Anteils auf netto null reduzieren. Wintershall Dea wird die eigene Methanintensität bis 2025 auf unter 0,1 Prozent senken. Wir unterstützen die Initiative der Weltbank „Zero Routine Flaring by 2030“, die darauf abzielt, das routinemäßige Abfackeln in eigenoperierten Anlagen bis 2030 zu beenden. Darüber hinaus planen wir, die weltweiten Bemühungen zur Dekarbonisierung zu unterstützen, indem wir ein Carbon Management- und Wasserstoff-Geschäft aufbauen, das 20-30 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr bis 2040 einsparen kann. Mehr hierzu finden Sie in unserem Nachhaltigkeitsbericht.
Wintershall Dea ist 2019 aus der Fusion der Wintershall Holding GmbH und der DEA Deutsche Erdoel AG hervorgegangen. Heute beschäftigt das Unternehmen über 2.000 Mitarbeitende aus nahezu 60 Nationen.