Zu Zeiten des Nationalsozialismus
Zwischen 1933 und 1945 profitierten Wintershall und DEA stark von der Kriegswirtschaft des nationalsozialistischen Regimes und vom Einsatz von Zwangsarbeit. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung für Wintershall Dea.
Im Jahr 2019 haben sich die deutschen Traditionsunternehmen Wintershall Holding GmbH (gegründet 1894) und DEA – Deutsche Erdoel AG (gegründet 1899) zu Wintershall Dea, einem der führenden unabhängigen Gas- und Ölunternehmen Europas zusammengeschlossen. Ein Blick in die mehr als 125-jährige Firmengeschichte in der Rohstoff- und Energiebranche offenbart allerdings nicht nur wirtschaftliche Erfolge, Ingenieurskunst und Pioniergeist: In den 1930er- und 1940er-Jahren gab es auch tiefe Verstrickungen von Wintershall und DEA mit dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland. Wir lassen diese bedrückende Phase der Unternehmensgeschichte kritisch, nachvollziehbar und unabhängig aufarbeiten. Das ist für uns ein wichtiger Teil unserer gesellschaftlichen Verantwortung.
Die Aufarbeitung
Seit Ende 2017 sichten wir unsere eigenen Unterlagen nach Informationen zur Firmengeschichte. Anlässlich des 125-jährigen Bestehens von Wintershall im Jahr 2019 beauftragten wir zusätzlich die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG) mit einer unabhängigen wissenschaftlichen Erforschung der Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus. Die renommierten Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Manfred Grieger, Dr. Rainer Karlsch und apl. Prof. Dr. Ingo Köhler präsentierten ihre Ergebnisse bei einer Historischen Tagung im September 2019 erstmals der Öffentlichkeit. Ein Jahr später wurden die Erkenntnisse als Buch mit dem Titel „Expansion um jeden Preis. Studien zur Wintershall AG zwischen Krise und Krieg, 1929–1945“ veröffentlicht.
Im Folgenden finden Sie die wichtigsten Ergebnisse der Historischen Tagung von 2019 im Überblick.
Betriebliche Sozialpolitik und Zwangsarbeit
Während der Historischen Tagung im September 2019 stellte Prof. Dr. Manfred Grieger (Georg-August-Universität Göttingen) seine Recherchen zum Alltag in verschiedenen Wintershall-Standorten zwischen 1933 und 1945 vor. Grieger zeichnete dabei anhand vieler Beispiele das Nebeneinander zwischen betrieblicher Sozialpolitik im Sinne des NS-Staats und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern nach.
Vom Kali- zum Mischkonzern
Wie der Kali-Konzern Wintershall seine Geschäftstätigkeit auf den Bereich Erdöl ausweitete und sich dabei an der „Ökonomie der Zerstörung“ im nationalsozialistischen Deutschland beteiligte, erforschte Dr. Rainer Karlsch (Institut für Zeitgeschichte München/Berlin). Er zeichnete nach, wie das Unternehmen sich ganz in den Dienst der Kriegswirtschaft stellte.
Die Verstrickung der Vorstände
Auf die handelnden Akteure der Wintershall AG konzentrierte sich apl. Prof. Dr. Ingo Köhler in seinem Tagungsbeitrag: Er zeigte, wie früh Wintershall-Generaldirektor August Rosterg aus opportunistischen Motiven die Nationalsozialisten unterstützte, dabei tief in die Strukturen von Raub und Verfolgung verwickelt wurde und mit dem Ausnutzen von Zwangslagen gute Geschäfte machte.
Die Ergebnisse dieser Studie sind schmerzhaft: Unser Unternehmen hat Zwangsarbeiter eingesetzt und sich an der NS-Kriegswirtschaft beteiligt. Wir lernen daraus: Wir wollen als Traditionsunternehmen Verantwortung nicht nur historisch aufarbeiten, sondern auch Verantwortung im Hier und Heute übernehmen – für eine starke, demokratische Gesellschaft.
Die Verantwortung bleibt, die Forschung geht weiter
Die wissenschaftlichen Ergebnisse von „Expansion um jeden Preis“ tragen nicht nur zur Aufarbeitung der Wintershall-Geschichte bei. Sie ermöglichen auch einen genaueren Blick auf das Verhalten der gesamten Öl- und Gasindustrie in der NS-Zeit und erinnern heute daran, dass wirtschaftliches Handeln immer auch politisches Handeln ist. Da ist es nur folgerichtig, auch die Geschichte des zweiten Vorgängerunternehmens DEA zwischen 1933 und 1945 in den Blick zu nehmen.
Die DEA im Nationalsozialismus
Anders als bei Wintershall gab es zu Teilaspekten der Geschichte von DEA schon vereinzelte Informationen zur Rolle des Unternehmens in der NS-Zeit – etwa in der Branchenstudie „Faktor Öl: Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859-1974“ (2002) von Rainer Karlsch. Dieser veröffentlichte auch einen Aufsatz über die Karpaten Öl AG, ein Gemeinschaftsunternehmen deutscher Ölfirmen, an dem die DEA finanziell und personell stark beteiligt war. Die Karpaten Öl AG sollte die Ölvorkommen im heutigen Polen ausbeuten und setzte dazu zehntausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein.
Andere Historiker gaben in Sammelstudien und Quellenbänden Einblicke in das Schicksal einiger jüdischer DEA-Vorstände und Aufsichtsräte: So wurde etwa Georg Solmssen, Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bank AG und Vorsitzender des Aufsichtsrats der DEA, wegen seiner jüdischen Herkunft 1938 ebenso aus dem Amt gedrängt wie DEA-Vorstand Fritz Haußmann.
Doch ein Gesamtüberblick fehlte bislang zur NS-Geschichte der DEA. Deshalb hat Wintershall Dea die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG) in einem Folgeprojekt mit Recherchen zur Geschichte der DEA beauftragt: Dazu recherchieren Prof. Dr. Manfred Grieger und Dr. Rainer Karlsch seit Februar 2022 europaweit in Archiven und erschließen neue Quellen. Wintershall Dea stellt ihr eigenes Archiv uneingeschränkt zur Verfügung. Eine Buchveröffentlichung zur Geschichte der DEA in der Zeit des Nationalsozialismus ist in Arbeit.
Am 8. November 2023 stellten Rainer Karlsch und Manfred Grieger neue Ergebnisse auf einer Historischen Tagung in Hamburg erstmals öffentlich vor. Hier präsentierten auch Wissenschaftler:innen anderer Institutionen ihre Forschung und weiteten so den Blick auf die deutsche Erdölbranche zwischen 1933 und 1945.
Video: Buchpräsentation
2020 hat Wintershall Dea Studien über die Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus veröffentlicht. Das daraus resultierende Buch wurde in Kassel der Öffentlichkeit vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung gab es zudem eine Podiumsdiskussion zu der Frage, welche Verantwortung für die Gegenwart aus der eigenen Vergangenheit resultiert.
Video: Buchpräsentation
2020 hat Wintershall Dea Studien über die Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus veröffentlicht. Das daraus resultierende Buch wurde in Kassel der Öffentlichkeit vorgestellt. Bei dieser Veranstaltung gab es zudem eine Podiumsdiskussion zu der Frage, welche Verantwortung für die Gegenwart aus der eigenen Vergangenheit resultiert.
Im Folgenden finden Sie Abstracts der Vorträge der Historischen Tagung.
Der DEA-Standort Rositz
Wie die auf Expansion und Krieg ausgerichtete NS-Wirtschaftspolitik zu einer wesentlichen Erweiterung der Erzeugungskapazitäten führte, zeigte Prof. Dr. Manfred Grieger am Beispiel des DEA-Standorts Rositz. Um die Produktion von Heizöl und Kraftstoff für die Kriegsmarine zu sichern, wurden dort mehr als 3200 Zwangsarbeiter eingesetzt.
Die Annexion von Österreich als Chance für DEA
Dr. Rainer Karlsch erläuterte in seinem Beitrag die bislang kaum erforschten Aktivitäten der DEA in Österreich nach der Annexion durch das Deutsche Reich im Jahr 1938 und zeigte, wie die Kriegswirtschaft der DEA auch eine Rückkehr der DEA ins Erdölgeschäft ermöglichte.
Nutznießer über 1945 hinaus
Das Reichsbohrprogramm des nationalsozialistischen Regimes sorgte für einen wahren Boom bei der Suche nach Erdöl in Deutschland. Marvin Brendel (Agentur All About Assets, für Wintershall Dea) erläuterte in seinem Vortrag, wie die DEA und auch Wintershall über das Kriegsende hinaus von dem Förderprogramm und der ebenfalls von den Nationalsozialisten angepassten Rechtslage profitierten.
Verflechtung von Wirtschaft und Politik
Wie eng kooperierten die deutsche Politik und die Erdölunternehmen in der NS-Zeit? Dieser Frage ging Dr. Karsten Linne (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur) in seinem Beitrag am Beispiel der Gründung der Kontinentalen Öl AG nach.
Die Erdölwirtschaft im Landkreis Celle
Einen Blick auf den Landkreis Celle, einem der wichtigsten DEA-Standorte, lieferten Dominik Dockter, Dr. Christian Hellwig, Dr. Jana Stoklasa und Dr. Rita Seidel (Institut für die Didaktik der Demokratie, Leibniz-Universität Hannover). Sie präsentierten ihre Forschungsergebnisse zur niedersächsischen Erdölwirtschaft und gingen dabei vor allem auf Themen wie die NS-Anbindung von Belegschaften, der Einsatz von Zwangsarbeit sowie die Forschung und Lehre an der Hochschule Hannover zum Thema Erdöl ein.
Buchvorstellung zur Geschichte der DEA im Nationalsozialismus
Knapp drei Jahre nach seinem Beginn hat das DEA-Forschungsprojekt schließlich im November 2024 seinen Abschluss gefunden: Unter dem Titel „Treibstoff für den Weltkrieg: Die Deutsche Erdöl Aktiengesellschaft, 1933-1945“ stellten die Historiker Prof. Dr. Manfred Grieger und Dr. Rainer Karlsch am Wintershall-Dea-Standort in Hamburg ihr Buch für die Geschichte der DEA während der Zeit des Nationalsozialismus vor.
Ihre wichtigsten Ergebnisse:
- Opportunismus und kühles Gewinnstreben zeichnete das Handeln der Deutschen Erdöl Aktiengesellschaft (DEA) während der Zeit des Nationalsozialismus aus.
- Das Unternehmen begann bereits ab Herbst 1933 mit dem Ausbau seiner Heizöl- und Dieselproduktion für die Kriegsmarine.
- Die DEA profitierte sowohl von der „Arisierung“ jüdischer Firmen als auch von staatlichen Programmen zur Aufrüstung.
- Nach dem „Anschluss“ Österreichs stieg die DEA zum wichtigsten deutschen Erdölunternehmen auf und beteiligte sich an der Nutzung von Erdölvorkommen in den besetzten Ländern.
- Bei all dem nahm die Unternehmensführung die Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern billigend in Kauf.
Im Anschluss an ihre Vorträge diskutierten Rainer Karlsch und Manfred Grieger mit Maria Wilke (Leiterin der EVZ-Academy der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“), Prof. Dr. Detlef Garbe (früherer Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte) unter der Moderation von Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Walter Iber (Universität Graz) über die Aufarbeitung von Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit sowie über die Verantwortung der deutschen Wirtschaft für die heutige Erinnerungskultur.
Video: Buchvorstellung
2024 veröffentlichten die Autoren Dr. Rainer Karlsch und Prof. Dr. Manfred Grieger ihre Recherchen zur Geschichte der DEA in einem Buch. Die Buchpräsentation mit anschließender Podiumsdiskussion über die Verantwortung der Wirtschaft wurde für Interessierte aufgezeichnet.
Video: Buchvorstellung
2024 veröffentlichten die Autoren Dr. Rainer Karlsch und Prof. Dr. Manfred Grieger ihre Recherchen zur Geschichte der DEA in einem Buch. Die Buchpräsentation mit anschließender Podiumsdiskussion über die Verantwortung der Wirtschaft wurde für Interessierte aufgezeichnet.
DEA profitierte von Aufrüstungspolitik
In ihrem Buch „Treibstoff für den Weltkrieg“ zeigen Rainer Karlsch und Manfred Grieger detailliert, wie stark die frühere DEA von der NS-Kriegswirtschaft profitierte. Die Deutsche Erdöl AG produzierte unter anderem große Mengen synthetischen Treibstoff aus Braunkohlenteer für die Kriegsmarine, deren Großaufträge gemeinsam mit staatlichen Krediten den Ausbau der DEA-Standorte im mitteldeutschen Braunkohlenrevier überhaupt erst möglich machten.
Zudem wiesen die Autoren nach, wie sich das Unternehmen unter maßgeblicher Federführung von DEA-Vorstand Hans Gröber an „Arisierungen“ jüdischer Firmen beteiligte und wie es bis 1938 den jüdischen Vorstand Fritz Haußmann und mehrere jüdische Aufsichtsratsmitglieder entließ. Ein wesentlicher Aspekt der Studie ist darüber hinaus der Einsatz von zehntausenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die von der DEA sowohl im Deutschen Reich als auch in den besetzten Gebieten ausgebeutet wurden und 1944 mehr als ein Drittel der Belegschaft stellten.
Management nutzte alle Geschäftsmöglichkeiten
Die Recherchen zum ersten Aufarbeitungsprojekt von Wintershall Dea belegen unter anderem, dass die Führung der damaligen Wintershall AG um Generaldirektor August Rosterg zum Teil eng mit der NSDAP und besonders mit dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, verstrickt war – und die Nationalsozialisten unter anderem mit Spenden aktiv unterstützt hat.
Die Folge-Studie zur Geschichte der DEA zeigt: Im Vergleich zu Wintershall hat die DEA-Führung zwar nicht derart offen mit den Nationalsozialisten sympathisiert. Sie hat sich aber auch nicht gegen deren Politik gestellt, wie Stefan Schnell, Vorsitzender der Geschäftsführung von Wintershall Dea, hervorhebt. „Die Manager haben geschwiegen und opportunistisch die sich bietenden unternehmerischen Gelegenheiten genutzt“, sagt Schnell. Beide Vorgängerunternehmen hätten von Geschäftsmöglichkeiten profitiert, die sich aus der NS-Aufrüstungs- und Kriegspolitik ergaben. So erhielt die DEA etwa im Rahmen des Reichsbohrprogramms Darlehen zur Erschließung neuer Erdölquellen, von denen der Konzern auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch profitierte.
„Mit der Studie zur Rolle der DEA und ihrer Bedeutung für die Treibstoffproduktion für den Zweiten Weltkrieg nimmt das Unternehmen seine Verantwortung gegenüber der Geschichte wahr“, sagt Dr. Andrea H. Schneider-Braunberger, Geschäftsführerin der GUG. „Denn der wirtschaftliche Erfolg basierte nicht zuletzt auf dem Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, wie es in der Studie anhand einzelner Standorte gezeigt wird.“
Beide Studien sind im Buchhandel erhältlich
Die ausführliche Studie „Treibstoff für den Weltkrieg: Die Deutsche Erdöl AG, 1933-1945“ von Rainer Karlsch und Manfred Grieger ist als gebundenes Buch (Hardcover, 445 Seiten, ISBN 978-3-95542-511-1) in deutscher und englischer Sprache im Societäts-Verlag erschienen. Es ist zum Preis von 20 Euro im Buchhandel erhältlich.
Auch die Vorgängeranalyse „Expansion um jeden Preis: Studien zur Wintershall AG zwischen Krise und Krieg, 1929-1945“ von Manfred Grieger, Rainer Karlsch und Ingo Köhler (Hardcover, 258 Seiten, ISBN 978-3-95542-378-0) kann weiterhin über den regulären Buchhandel bezogen werden.